Im polnischen, partiell aber auch im deutschen Diskurs wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.5.2020 zur partiellen Verfassungswidrigkeit des PSP-Programms der EZB als qualitativ vergleichbar mit dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 7.10.2021 eingestuft. Das polnische Urteil knüpfe insoweit lediglich an die gefestigte Rechtsprechung des BVerfG an. Dem ist aus juristischer Sicht jedoch aus verschiedenen Gründen deutlich zu widersprechen, die an dieser Stelle knapp wiedergegeben werden sollen.
Im Ergebnis stellt das polnische Urteil – anders als das deutsche – mit der sehr pauschalen Absage an den Vorrang des Europarechts einen Grundpfeiler der europäischen Integration in Frage, so dass ernsthafte Zweifel bestehen, ob Polen weiterhin der EU verbleiben kann. Im Einzelnen ergeben sich folgende Unterschiede:
- In seinen Leitsätzen stellt das polnische Gericht die Verfassungswidrigkeit zentraler primärrechtlicher Normen (Art. 1 und 19 des Unionsvertrages) fest und stellt den etablierten Vorrang des Europarechts im Hinblick auf die polnische Verfassung prinzipiell in Frage. Das Bundesverfassungsgericht akzeptiert hingegen in ständiger Rechtsprechung den Vorrang auch vor der Verfassung und hat in seinem Urteil lediglich einen einzelnen sekundären Rechtsakt einer EU-Institution für ausnahmsweise ultra-vires eingestuft.
- Mit der Verfassungswidrigkeitserklärung primärrechtlicher Regelungen betritt das polnische Verfassungsgericht juristisches Neuland. Das hat es noch in keinem Mitgliedstaat gegeben, zumal hier mit Art. 1 EUV auch noch ein zentraler Artikel betroffen ist. Dogmatisch ist das in jedem Fall sehr zweifelhaft. Jedenfalls ging es beim Urteil des BVerfG nicht um Primärrecht, sondern ein sekundärrechtliches Ankaufprogramm.
- Das polnische Verfassungsgericht knüpft an keine etablierte und begrenzte Vorbehaltsdogmatik an und entwickelt eine solche auch in diesem Urteil nicht. Ohnehin fällt das Urteil gerade im Vergleich zum BVerfG-Urteil durch seine Begründungsarmut aus. Es geht damit, anders als beim BVerfG, nicht darum, das Europarecht in seinem Vorranganspruch in einem Kooperationsverfahren mit den Vorgaben der nationalen Verfassung in Einklang zu bringen und zu versöhnen. Vielmehr wird (beinahe ein wenig trotzig) ein pauschaler Vorrang der polnischen Verfassung postuliert. Es wird nicht einmal versucht, diesen Verfassungsvorrang seinerseits auf bestimmte Konstellationen (etwa nationale Identität) zu begrenzen und damit nicht absolut zu setzen.
- Dabei geht es, anders als beim Bundesverfassungsgericht, nicht um einen einzelnen Akt einer einzelnen EU-Institution. Vielmehr wird der Vorrang des Europarechts umfassend und für alle Bereiche im Hinblick auf die Verfassung ausgeschlossen. Entgegen der Wahrnehmung in der Öffentlichkeit betrifft dies also keineswegs nur den Bereich des Rechtsschutzes. Das war beim BVerfG ganz anders: Hier ging es nur um das PSP-Programm; erfasst wurden ausdrücklich nicht einmal andere, zukünftige Ankaufprogramme.
- Darüber hinaus werden die Bestimmungen des Unionsvertrages durch das polnische Verfassungsgericht auch insoweit als verfassungswidrig eingestuft, als sie der Republik Polen es nicht mehr ermöglichen „als souveräner und demokratischer Staat“ zu funktionieren. Was das bedeuten soll, ist völlig unklar und letztlich der freien Auslegung der polnischen Regierung zugänglich. Streng interpretiert kann sich die polnische Regierung damit gegen jede Verpflichtung stellen, die aus dem Europarecht folgt. Das wäre nichts weniger als das Ende der EU als Rechtsgemeinschaft. Aus der supranationalen Organisation würde ein schwacher Staatenbund. Erneut findet sich nichts Vergleichbares in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
- Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts wirkt vor allem in die Zukunft und kann und soll gegen künftige Urteile des EuGH und sonstige Handlungen der EU genutzt werden. Das dürfte auch der Grund sein, warum die polnische Regierung selbst dieses Urteil beantragt hat Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezog sich ausdrücklich nur auf das PSP-Programm der EZB und hat andere Ankaufprogramme explizit ausgenommen. Es wirkt also eher in die Vergangenheit. Nachdem der Disput bzgl. der Verhältnismäßigkeit des PSP-Programms nunmehr beigelegt ist, entfaltet es daher keine unmittelbare Wirkung mehr. Wie in kommenden Urteilen entschieden wird ist offen. Die etablierten Vorbehalte wurden einmalig aktiviert, im Übrigen bleibt der Vorranganspruch des Europarechts völlig unangetastet und zwar auch und gerade aus der Sicht des BVerfG.
- Das polnische Verfassungsgericht wehrt sich gegen jede Form der vermeintlichen Übergriffigkeit der EU im Allgemeinen und des EuGH im Besonderen. Demgegenüber fordert das Bundesverfassungsgericht explizit eine schärfere Kontrolle durch den EuGH und wird sich dann wieder auf seine Reserverolle zurückziehen. Wie auch immer man zu dem Urteil des BVerfG steht: Es ist jedenfalls nicht gegen die institutionelle Ordnung der EU gerichtet, will diese vielmehr in ihrer gewaltenteilenden Ausprägung gestärkt wissen.
- Im Hinblick auf die Ausgestaltung des nationalen Justizsystems leugnet das polnische Verfassungsgericht letztlich jede Kompetenz der EU. Das ist in dieser Form praktisch nicht haltbar, da die polnischen Gerichte Bestandteil des europäischen Gerichtsverbundes sind und in diesem Rahmen als funktionelle Unionsgerichte tätig werden. Nicht unabhängige nationale Gerichte sind aus diesem Grund mit dem europäischen Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar, weshalb eine solche Organisation der nationalen Gerichtsbarkeit durch die EU sanktioniert werden kann und muss. Es geht dabei um fundamentale Prinzipien, deren Vorliegen vor einem EU-Beitritt einen solchen verhindern würden. Beim Bundesverfassungsgericht ging es hingegen um sehr technische Fragen der Währungsunion, die letztlich das Fundament der EU als solches von vornherein nicht bedrohen. Tatsächlich hatte das Urteil des BVerfG nicht einmal ernsthafte Auswirkungen auf die Währungsunion oder die Handlungsfähigkeit der EZB (wie dies u.a. von mir hier bereits vorhergesehen wurde).
- Das polnische Verfassungsgericht spricht den nationalen RichterInnen die etablierte Befugnis ab, die Europarechtskonformität nationaler Maßnahmen selbst zu überprüfen und entgegenstehende Bestimmungen außer Acht zu lassen. Das ist ein weiterer fundamentaler Eingriff in grundlegende Prinzipien des europäischen Gerichtsverbunds und die Rechtsgemeinschaft. Nichts davon findet sich (natürlich) in der Entscheidung des BVerfG.
- In diesem Zusammenhang untersagt das polnische Verfassungsgericht den nationalen RichterInnen auch die Anwendung ersetzten nationalen Rechts, soweit das neue ersetzende Recht europarechtswidrig sein sollte. Auch das schädigt die Rechtsgemeinschaft massiv mit Wirkung in der Zukunft; die EU könnte nicht mehr als supranationale Organisation angesehen werden. In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts findet sich dazu nichts.
Im Ergebnis kann man festhalten: Unabhängig davon, wie man zu dem Urteil des BVerfG steht, hat das polnische Urteil eine völlig andere Qualität. Es rüttelt an den Grundfesten der europäischen Integration, beeinträchtigt in massiver Weise die Funktionsfähigkeit des supranationalen europäischen Gerichtsverbunds und wirkt in dieser Hinsicht vor allem in die Zukunft. Mit der pauschalen Ablehnung des Vorrangs des Europarechts ist europäische Integration in ihrer bisherigen Form nicht mehr möglich. Streng genommen ist ein Verbleib Polens in der EU unter diesen Umständen nicht mehr denkbar, die EU wäre nichts mehr als ein schwacher Staatenbund (wie der Deutsche Bund von 1815-1866). Das Urteil des BVerfG hingegen stellt keinen der etablierten Grundsätze in Frage, auch und gerade den Vorrang des Europarechts nicht, sieht die EU lediglich in einem sehr speziellen und zukünftig kaum relevanten Feld außerhalb ihrer Kompetenzen. Anders gewendet: Die Integration wird in einem Fall generell praktisch unmöglich, während im anderen Fall lediglich punktuelle Korrekturen eingefordert werden, ohne die Grundprinzipien anzutasten. Der Disput zwischen dem EuGH und dem BVerfG lässt sich auflösen, derjenige zwischen dem polnischen Verfassungsgericht und der EU (und dem EuGH) nicht – jedenfalls nicht juristisch. Formal gesehen muss dieses Urteil noch durch die polnische Regierung veröffentlicht werden. Bis dahin hat es keine formale Rechtskraft. Der politische Schaden ist unabhängig davon aber bereits eingetreten.